Agile Softwareentwicklung und Prozessverantwortung
Wenn der Prozess rund laufen soll, muss die Zusammenarbeit zwischen den fachlichen Anwendern und ihrer Software funktionieren. Prozessverbesserungen und IT-Anpassung müssen Hand in Hand gehen. Im Blogbeitrag „Warum Prozessmodellierung iterativ erfolgen sollte“ habe ich dazu einen Zyklus von Prozessmodellen in der prozessgesteuerten Digitalisierung vorgestellt. Dieser Zyklus überwindet die missverständlichen Begriffe „Ist-Prozess“ und „Soll-Prozess“.
Die agile Softwareentwicklung sieht in ihren Rollenbeschreibungen einen „Product Owner“ vor, der im Entwicklungsprojekt die Rolle des Auftragnehmers wahrnimmt. Da wir wissen, dass alle IT-Entwicklungen die Verbesserung eines Prozesses zum Ziel haben, übernimmt ein Prozessverantwortlicher diese Aufgabe. Hier erfahren Sie, wie das Rollenverständnis des Product Owner aus der Softwareentwicklung mit dem Verständnis des Prozessverantwortlichen („Process Owner“) aus der Prozessentwicklung zusammengeht.
Aufgaben des Prozessverantwortlichen für die einzelnen Modelle
Für die prozessgesteuerte Digitalisierung nutzen wir einen iterativen Zyklus von Prozessmodellen. Diese Modelle bezeichnen wir als
- das aktuell verbindliche Prozessmodell
- Das Modell des Zielprozesses
- Das in der Iteration als nächstes realisierte Prozessmodell
- Das übernächste Modell
- weitere Iterationen des Prozesses
Jedes Prozessmodell im Zyklus der prozessgesteuerten Digitalisierung bringt eigene Aufgaben und eigene Quality Gates mit sich, die den Übergang zwischen den iterativen Prozessphasen markieren.
Aufgabe im aktuell gültigen verbindlichen Prozess:
Dieser Prozessablauf entspricht dem aktuellen Stand der verwendeten Software, der verwendeten Dokumente, Formulare und Kommunikationsmittel. Die Prozessbeteiligten können mit dem, was ihnen jetzt zur Verfügung steht, ihre Arbeit entsprechend diesem Prozess erledigen. Manchmal gibt dabei es Einschränkungen, wenn bestimmte Fallkonstellationen von Kunden oder Kundenaufträgen mit dem Verfahren nicht zu bedienen sind.
Prozessverantwortliche haben hier eine Supportfunktion. Sie unterstützen die Prozessbeteiligten bei der korrekten Anwendung der Hilfsmittel im Prozess. Wenn Fehler auftreten oder etwas nicht wie vorgesehen läuft, entwickeln sie zusammen mit den Beteiligten notwendige Korrekturen oder Workarounds. Sie nehmen solche Ereignisse auf und binden die Erfahrungen in die Entwicklung zukünftiger Versionen ein.
Sie beobachten die Arbeit im Prozess. Prozesskennzahlen sind dabei eine wichtige Beobachtungshilfe. Solche Kennzahlen sollten nicht eigens von Prozessverantwortlichen „erhoben“ werden – die Dokumente und Anwendungen sollten die Kennzahlen aus sich heraus bereitstellen. Tipp aus langjähriger Erfahrung: Wenn jemand zusätzliche Excel-Tabellen führen muss, um Prozesskennzahlen zu monitoren, dann hat der Prozess noch Optimierungsbedarf.
Zusammen mit den Führungspersonen, die für das Ergebnis verantwortlich zeichnen, entscheiden die Prozessverantwortlichen über notwendige Verbesserungen im Prozess und planen die für zukünftige Versionen ein.
Aufgabe beim Zielprozess:
Bei der Erstellung des Zielprozesses kommt den Prozessverantwortlichen eine zentrale Rolle zu. Sie kennen die Erwartungen der Kunden und die alltäglichen Hürden der Prozessbeteiligten. Gemeinsam entwickeln alle Beteiligten das Zielbild. Dieser Prozess soll
- den Kundennutzen realisieren
- ein herausragendes Kundenerlebnis bieten
- dem Unternehmen Wettbewerbsvorteile sichern
- Verschwendung eliminieren
- Tätigkeiten von menschlichen Akteuren im Prozess auf Entscheidungen konzentrieren.
Dieses Prozessbild gibt dann die Richtung vor, in die sich der Prozess mit der Digitalisierung entwickeln soll. Hier sind Eckpunkte genannt, an denen der Fortschritt der Zusammenarbeit festgemacht werden kann. Die Prozessverantwortlichen verfolgen dieses Zielbild, stoßen aber auch die Diskussion um eine Anpassung des Zielbilds an, wenn das notwendig wird.
Aufgabe bei der nächsten Version des Prozesses:
Das Design der jeweils nächsten Version des Prozesses ist fest. Die IT-Entwicklung arbeitet bereits daran, da können wir nicht mehr an den Spezifikationen drehen. Für die Prozessverantwortlichen ist die Arbeit aber noch nicht erledigt.
- Sie sind Ansprechpartner für die Entwicklung und müssen schnell Entscheidungen treffen, wenn Details noch offen sind.
- Sie reviewen Arbeitsstände der Entwicklung und nehmen das Release der Software für die Arbeit im Prozess ab.
- Sie informieren die Prozessbeteiligten über die Inhalte des Software-Release und die daraus abgeleiteten Änderungen im Prozess.
- Sie erstellen die Benutzerdokumentation und trainieren die Benutzer für die neue Version des Prozesses.
Das Quality Gate für dieses Prozessmodell ist die erfolgreiche Abnahme des Release für den Prozess.
Aufgaben bei der übernächsten Version des Prozesses
Hier ist eine der wichtigsten Aufgaben der Prozessverantwortlichen in der prozessgesteuerten Digitalisierung: Die präzise Spezifikation des nächsten Prozess-Release. Der Umfang der Veränderungen, die mit dieser Version realisiert werden, ist weitgehend abgeschlossen. Aber es muss eine Auswahl getroffen werden, welches Feature der Software für den Prozess Vorrang hat. Der Umfang der Entwicklungsarbeiten einer Iteration ist in agilen Software-Projekten vorgegeben. Prioritäten setzen ist dabei Kernkompetenz.
Die konkreten Aufgaben der Prozessverantwortlichen für diese Phase sind:
- Ein korrektes Prozessmodell erstellen mit allen Erwartungen an den Prozessablauf, der mit dem nächsten Release umgesetzt wird.
- Die Geschäftsregeln für alle Entscheidungen, die in der nächsten Prozessversion automatisiert werden sollen.
- Die Dialoge zwischen Benutzern und Software im Prozess beschreiben. Die IT-Entwickler erwarten die Beschreibung in Form von User Stories.
- Die IT-Serviceverträge an den Schnittstellen zwischen Fachprozess und IT-Prozess beschreiben: Welche Informationen werden an welcher Stelle des Prozesses benötigt und welche Transaktionen werden vom Prozess angestoßen? Prozessverantwortliche müssen diese Übergaben aus der fachlichen Perspektive präzise benennen.
- Die Abnahmekriterien für die Software benennen: Welche Anforderungen muss die Software in der nächsten Version erfüllen, damit der Prozess so wie geplant verändert werden kann?
Aufgaben bei den späteren Versionen des Prozesses
Während die Prozessversionen a. und b. weitgehend feststehen, darf über den Inhalt aller weiteren Versionen gern noch kontrovers diskutiert werden.
Welche Veränderungen bringen den Prozess weiter in Richtung des Zielbildes?
Dazu pflegen die Prozessverantwortlichen eine To-Do-Liste mit Aufgaben für die IT-Entwicklung und für die Prozessbeteiligten. In der agilen Software-Entwicklung wird das der Product Backlog genannt. Dort finden sich Aufgaben, die zunächst nur vage umrissen sind und solche, die bereits konkret beschrieben sind. Die Prozessverantwortlichen sind dafür zuständig, dass alle Aufgaben priorisiert sind und bis zur Umsetzung in Version a. konkret und präzise beschrieben werden.
Immer wieder ergeben sich aus der realen Erfahrung im Prozess, dass Veränderungen aus vorherigen Versionen nicht den gewünschten Effekt haben. Sei es, dass man sich im Design des Prozesses geirrt hat, sei es, dass der Prozess in der IT-Anwendung nicht richtig umgesetzt wurde, sei es, dass das Geschäftsmodell bereits neue Anforderungen an die Arbeit stellt. Solche Veränderungen sind in das Design der zukünftigen Prozessversionen einzuarbeiten.
Business und IT auf Augenhöhe
Prozessoptimierung ist ohne IT-Entwicklung heute nicht mehr denkbar. Darum müssen wir ein gemeinsames Rollenverständnis zwischen einer iterativen Entwicklung von Prozessversionen und den Releases einer agilen Softwareentwicklung aufbauen. Der Zyklus von Prozessmodellen in der prozessgesteuerten Digitalisierung und die Aufgaben für Prozessverantwortliche schaffen dieses gemeinsame Verständnis.
Mit diesem Rollenmodell gelingt die Zusammenarbeit zwischen Verantwortlichen aus IT und Business auf Augenhöhe. So realisiert die Software-Entwicklung zuverlässig Prozessoptimierungen. Und im Business werden die jeweils aktuellen Prozesse auch gelebt.
Fazit: Aufgaben für die Prozessverantwortlichen in der prozessgesteuerten Digitalisierung
Auf die Prozessverantwortlichen kommen in diesem Verständnis der prozessgesteuerten Digitalisierung verschiedene Aufgaben zu:
- Sie beobachten den aktuell gültigen Prozess, stellen Abweichungen fest und entscheiden, ob sie intervenieren oder nicht. Sie unterstützen Beteiligte darin, den verbindlichen Prozess einzuhalten. Sie messen die Performance und die Qualität des Prozesses und des Ergebnisses.
- Sie bereiten die Beteiligten auf die nächste Version des Prozesses (a.) vor. Dazu schreiben sie Anleitungen oder bieten Trainings an.
- Sie sind verantwortlich für die präzise fachliche Beschreibung des übernächsten Prozesses (b.). Nur was in der Übergabe sauber und eindeutig beschrieben ist, kann von Technikern auch umgesetzt werden.
- Sie sorgen für die Diskussion über folgende Prozessvarianten (c.). Alle relevanten Erkenntnisse sollen in diese Diskussion einfließen, vor allem die Sicht der Prozessbeteiligten und Kunden im Prozess.
- Sie stoßen eine Überarbeitung des Zielprozesses an, wenn sie das für notwendig sehen. Der kontinuierliche Vergleich zwischen der Zielvorstellung und dem tatsächlichen Pfad der Optimierung ist wichtig.
Und falls Sie noch einmal (oder das erste Mal) nachlesen möchten, warum der Begriff „Sollprozess“ zu vermeiden ist, und wie es besser geht -> hier geht es zum Beitrag „Warum Prozessmodellierung iterativ erfolgen sollte“
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