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Was ist wichtiger – die Regeln einhalten oder kundenorientiert handeln? Immer wieder stehen Mitarbeiter im Wertkonflikt, wenn geltende Regeln an Grenzen kommen. Soll ich den Sonderwunsch eines Kunden bedienen, auch wenn das eigentlich nicht vorgesehen ist? Kann ich das Ticket eines Kunden akzeptieren, auch wenn er versehentlich einen falschen Fahrschein gelöst hat? Soll ich eigenmächtig die Produktion anhalten, wenn ich unsicher bin, ob da was kaputt ist?

Wozu gibt es eigentlich Regeln?

Unternehmen schaffen klare Regeln und Prozesse, um Sicherheit zu geben. Es entlastet Mitarbeiter und Kunden, wenn alle wissen, was von ihnen erwartet wird. Es spart Zeit und Nerven, wenn man die Erwartungen nicht immer wieder neu aushandeln muss. Im Prozessmanagement geht es in erster Linie darum, diese Erwartungen an das Verhalten zu formulieren. Sind die Regeln und die Prozesse klar, wissen alle, wie sie sich verhalten sollen. Allgemein akzeptierte Prozesse kann man auch automatisieren – der Computer kann schließlich nicht verhandeln.

Was passiert, wenn Regeln an Grenzen stoßen?

Dann kommt es zu einem Wertkonflikt. Wir erleben die Auseinandersetzung zwischen zwei Werten, die beide als wichtig gelten, die man aber nicht gleichzeitig aufrechterhalten kann. Auf der einen Seite steht die Prozesssicherheit, die Forderung, gleiche Regeln für alle anzuwenden, die Forderung nach transparenten digitalen Prozessen. Auf der anderen Seite wollen wir kundenorientiert agieren, „den Menschen im Mittelpunkt“ sehen, den „gesunden Menschenverstand“ nutzen. Immer wieder stehen Mitarbeiter von Unternehmen vor einem solchen Dilemma.

Praxisbeispiel eines Wertkonflikts: Kundenorientierung versus Geschäftsbedingungen

Ein Beispiel hat kürzlich in meiner LinkedIn Timeline hohe Aufmerksamkeit erregt: Dort schilderte eine Nutzerin ihre Beobachtung auf einer Bahnreise mit Flixtrain. Eine Kundin hatte versehentlich das Ticket für den Vortag gelöst und saß nun ohne gültigen Fahrschein im Zug. Es gab noch genügend freie Plätze, und sie war bereit, ein neues Ticket zu lösen, aber der Zugbegleiter bestand darauf, dass dies nach seinen Regeln nicht möglich sei. Das Unternehmen verkaufe Tickets nur mit vorheriger Platzreservierung. Die Dame musste den Zug beim nächsten Halt verlassen.

Sie können sich vorstellen, wie die Community auf diesen Empörungstrigger reagiert hat. Die meisten Kommentare verurteilten die Hartleibigkeit des Zugbegleiters. Der Vorfall diente als Beleg für die „Servicewüste Deutschland“. Aber das Beispiel zeigt nur besonders auffällig, dass Prozesse immer wieder auf Dilemmata stoßen. Die Spannung zwischen vereinbartem Prozess und „gesundem Menschenverstand“ gehört überall zum Alltag. Schließlich kann man Prozesse nicht so definieren, dass Konflikte und Grenzfälle immer und komplett ausgeschlossen sind.

Kann man Regeln für Grenzfälle und Wertkonflikte schaffen?

Diese Erkenntnis stellt uns vor zwei Herausforderungen: Zum einen müssen wir beim Design von Prozessen die Möglichkeit vorsehen, dass eben dieses Design unvollständig ist. Selbst wenn wir uns keine Situation vorstellen können, wo unsere vereinbarten Regeln nicht greifen, werden wir immer wieder von der Lebensrealität überrascht. Kluge Prozessmanager sehen das voraus. Jeder Prozess braucht also eine Art „Notausgang“, über den wir nachvollziehbar und beobachtet den vorgegebenen Prozess verlassen und autonom entscheiden. Das gilt auch für digitale Prozesse.

Zum anderen müssen wir einen Rahmen schaffen, wo Mitarbeitende souverän mit paradoxen Situationen umgehen können. Paradoxiefähigkeit ist eine der wichtigsten Aufgaben für Führung. Wertkonflikte erfordern Entscheidungen – und Verantwortung. Denn wer in einem Konflikt zwischen zwei gleichberechtigten Werten eine Entscheidung trifft, geht das Risiko ein, dass diese später als „falsch“ bewertet wird.

Gegen Regeln zu entscheiden bedeutet Verantwortung übernehmen

Mit dieser Bereitschaft zum Risiko übernimmt Mensch Verantwortung. Den Mut zum Fehler. Das ist eine Kompetenz, die nur menschlichem Handeln vorbehalten ist. Eine Maschine kann zwar Fehler machen, aber nicht Verantwortung dafür übernehmen.

Ob Menschen zum Risiko bereit sind, im Einzelfall gegen bestehende Regeln zu entscheiden, hängt von der Führung ab. Ist der Rahmen im Unternehmen so gestaltet, dass die Bereitschaft zur Verantwortung gefördert wird – oder erfahren Menschen eher, dass diese Bereitschaft nicht gewünscht ist?

Der Unterschied zeigt sich in der Erfahrung so genannter „Fehler“. Wenn eine Entscheidung im Nachhinein in der Kommunikation als „falsch“ bewertet wird, dann kann das mit negativen Sanktionen verbunden sein für die Person, die den „Fehler gemacht“ hat. Oder mit einer positiven Reaktion für die Bereitschaft zur Entscheidung. Erfahre ich positive Rückmeldung fürs „Verantwortung übernehmen“, kann ich auch die sachliche Diskussion um die Abwägung meiner Entscheidung annehmen. Dann können wir als Team lernen, in Zukunft besser zu entscheiden.

Wertequadrat hilft bei der Bewertung von Entscheidungen

Ein praktisches Instrument im Führungsalltag ist dabei das berühmte „Wertequadrat“ von Friedemann Schulz von Thun. Dieses Konzept hilft uns, auf den ersten Blick „falsches“ Verhalten in einem Kontext gegenläufiger Werte einzuordnen. In dem genannten Beispiel könnte eine Führungsperson mit der Zugbegleitung auf den Vorfall schauen und das Verhalten als übertrieben „rigoros“ ansehen. Attribute wie „pedantisch“, „gnadenlos“ „sklavisch“ können da mitschwingen.

Statt aber mit dieser Bewertung die Person zu sanktionieren, könnte die Führungskraft versuchen, die positiven Werte in diesem Verhalten zu erkennen, die für die Person in diesem Moment vielleicht wichtig waren: Sie wollte „berechenbar“ bleiben. „verantwortungsvoll“ für das Unternehmen handeln, „standfest“ die Interessen des Unternehmens vertreten, auch wenn es schwierig würde. Regeln sollen schließlich für alle gelten.

Wir könnten dann auch darauf schauen, was die handelnde Person in diesem Moment wahrscheinlich NICHT sein wollte: Sie wollte nicht als „nachlässig“ erscheinen, wollte in ihrem Verhalten nicht „inkonsistent“ sein. Sie wollte das Unternehmen vielleicht nicht „erpressbar“ machen, wenn der Unmut eines Shitstorms hereinbricht. Und auf keinen Fall wollte sie die Regeln „beliebig“ machen.

Aus diesen Blickwinkeln erscheint das Verhalten, dass uns zunächst eindeutig negativ vorkam, dennoch verständlich. Wir können würdigen, dass die Person aus gutem Willen im positiven Interesse von Unternehmen und/oder Kunden gehandelt hat. Wenn ich als Führungskraft gegenüber dem Mitarbeiter dieses Verständnis zurückspiegele, kann ich schließlich auf Entwicklungsmöglichkeiten hinweisen. Ich kann aufzeigen, dass man sich gegenüber Regeln auch „souverän“ verhalten kann, dass es wichtig ist, Situationen „differenziert“ anzuschauen und „menschlich“ zu bleiben.

Führung bedeutet, Feedback bei Entscheidungen bei Wertkonflikten zu geben

Ich halte das Wertequadrat für ein wichtiges Hilfsmittel im Führungsalltag bei Wertkonflikten. Das Konzept ist vielseitig einsetzbar. Wir unterscheiden dabei ein beobachtetes Verhalten und ein mögliches anderes, gegenteiliges Verhalten. Beide Verhaltensoptionen sind mit positiven und negativen Werten belegt.

Häufig sehen wir zunächst nur die negativen Werte von Verhalten, das wir „korrigieren“ wollen. Das Wertequadrat hilft uns, aus diesem engen Blickwinkel herauszukommen, indem wir die positiven Werte des beobachteten Verhaltens ebenso verstehen wie die negativen Werte des im jeweiligen Fall nicht gezeigten (aber vielleicht gewünschten) Verhaltens.

Schließlich lenken wir den Blick auf allseits akzeptierte Werte, die wir in möglichen anderen Verhalten von Personen erkennen. Das ermöglicht Personen, ihre eigene Entscheidung in anderem Licht zu sehen und für die Zukunft mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu erkennen.

Wie sieht ein Wertequadrat aus?

Dieses Coaching- und Führungsinstrument wird oft als Quadrat veranschaulicht. Dabei stehen links die Attribute für das beobachtete Verhalten, rechts die des nicht beobachteten, aber gewünschten Verhaltens. Oben im Quadrat sammeln wir die Attribute, die das jeweilige Verhalten positiv bewerten, unten die negativ besetzten Attribute.

Wertkonflikt mit dem Wertequadrat bearbeiten

Diese Sammlung ist eine gute Gesprächsvorbereitung. Wir starten bei der scheinbar offensichtlichen negativen Bewertung von beobachtetem Verhalten, fragen dann nach den möglichen positiven Attributen dessen, was wir korrigieren wollen und nach den negativen Attributen des möglichen anderen Verhaltens. Was will jemand mit seinem Verhalten vermeiden? Zum Schluss lenken wir gemeinsam den Blick auf die positiven Werte von dem Verhalten, das wir für eine Person stärker in den Blick rücken wollen.

Wenn wir Prozessmanagement als Führungsfunktion verstehen, dann brauchen wir solche Führungskompetenzen für Prozessmanager.

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