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Warum macht immer wieder der Reklamationsprozess Probleme? Wie mir scheint, birgt kaum ein anderer Prozess in Unternehmen so viel Ineffizienz, Kompetenzgerangel und Missverständnisse. Schauen wir auf den Ablauf im Prozess denken wir: „So kompliziert ist das doch nicht.“ Und schon tappen wir in die Prozessfalle. Wir meinen, mit einem strukturierten Workflow das Problem zu lösen, aber die wirklichen Herausforderungen sind nicht auf der Prozessebene – sie lauern in der Sozialdimension.

In der Prozessfalle

Einen digitalen Workflow für einen Reklamationsprozess haben wir schnell gebaut. Und das ist auch schonmal ein großer Vorteil, denn oft wissen Unternehmen nicht einmal, wie viele Reklamationen es gibt, wie viele gerade in Arbeit sind und bei wem jeder Vorgang aktuell liegt. Diese Transparenz ist gerade beim Reklamationsprozess wichtig, weil wir hier besonders häufig eine Diffusion von Verantwortung beobachten können.

Aber in der Praxis zeigt sich häufig, dass der Workflow nicht so funktioniert, wie wir uns das gedacht haben. Offenbar ist der Prozess in Wirklichkeit nicht so einfach wie es scheint.

Wenn wir den Prozess recherchieren, erfahren wir klar strukturierte Zuständigkeiten, die aber im echten Leben so gar nicht zutreffen – da verschwimmen die Verantwortlichkeiten. Das kann das beste Workflow-System nicht digitalisieren.

Entscheidungen und Kommunikation im Reklamationsprozess brauchen viel Erfahrungswissen und Fingerspitzengefühl, da können digitale Geschäftsregeln nur einen kleinen Teil abdecken.

Wir erleben in der Diskussion des Prozesses oft, dass uns die Lösung in den Händen zerrinnt, sobald wir sie greifen wollen. Mit jeder Antwort tun sich drei neue Fragen auf, das Projekt dreht sich im Kreis. Jede vorgeschlagene Lösung erfordert immer erst die Lösung eines anderen Problems. Wir finden nicht das Ende.

Vielleicht haben Sie solche oder ähnliche Erfahrungen bei der Bearbeitung eines Reklamationsprozesses bereits erlebt. Ich erkläre mir das als systemisches Phänomen: Das System „Unternehmen“ sträubt sich gegen eine Lösung, auch wenn alle beteiligten Personen eine Lösung ernsthaft wollen.

Der übersehene Kontext

Solche Endlosschleifen oder Deadlock-Situationen weisen in der Regel auf einen übersehenen oder ausgeblendeten Kontext hin. In dem Rahmen, den wir diskutieren, ist keine Lösung möglich. Wir müssen den ausgeblendeten Kontext in den Blick nehmen. Das ist in den meisten Organisationen herausfordernd, denn das System blendet die Kontexte aus, die in der Kultur des Systems nicht erwünscht sind. Solange wir die bestehenden Tabus akzeptieren, drehen wir uns im Problemkreis.

Verborgene Ebenen im Reklamationsprozess

Hinter einer Reklamation lauert immer der Kontext von Fehler und Schuld. Wir alle kennen den Appell in der Fehler-Ursachen-Analyse, dass es nicht darum geht „Schuldige zu finden“ und alle Beteiligten beschwören auch pflichtbeflissen, nur nach „Ursachen“, nicht aber nach „Schuld“ zu suchen – aber das bleibt meistens ein frommer Wunsch.

Eine Reklamation weist in der Regel auf eine Fehlleistung im Unternehmen hin, und der verbreitete Reflex ist es, zunächst den Ort der Fehlleistung festzustellen. Und oft zeigt sich dann, dass immer wieder dieselbe Abteilung oder die „üblichen Verdächtigen“ ins Blickfeld treten. Jetzt brauchen Sie schon eine Menge an Formulierungsgeschick, um nicht von „den Verantwortlichen“ zu sprechen. Das Rumgeeiere macht die Situation nicht besser – der Elefant im Raum bekommt nur eine andere Farbe.

Ungesunde Asymmetrie

Innerhalb des Unternehmens entsteht jetzt eine gefährliche soziale Dynamik. Wer Fehlleistungen eines anderen benennt, „Verantwortlichkeit“ oder Schuld zuweist, eröffnet eine asymmetrische Beziehung. „Ich kann beurteilen, dass du etwas falsch gemacht hast.“ Aus einer solchen Beziehung entsteht keine produktive Zusammenarbeit. Sie führt entweder zu einem Konflikt, wenn die „unterlegene“ Partei die Asymmetrie ablehnt, oder zu einer unterwürfigen Abhängigkeit, wenn sie die „unten“-Position akzeptiert. Asymmetrische Beziehungen erschweren eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Das gilt auch (oder gerade), wenn die Partner in einer hierarchischen Beziehung stehen.

Worum es im Reklamationsprozess geht

Über all dem Herumlavieren wird schnell vergessen, worum es eigentlich geht. Ein Kunde reklamiert, dass er nicht die erwartete Leistung erhalten hat. Da sind Enttäuschung, Ärger, Aufwand, Zeitverlust und weitere negative Erlebnisse im Spiel. Das Wichtigste in dieser Situation ist zugewandte Kommunikation: Wir zeigen, dass wir die Reklamation ernst nehmen, dass uns die Enttäuschung leidtut, dass wir uns alle Mühe geben, die Sache schnell zu klären. Aber genau das passiert nicht, weil wir mit uns selbst zu sehr beschäftigt sind.

Ich finde, dass es ungemein hilft, wenn wir die verschiedenen Aspekte der Reklamation in der Kommunikation trennen – aber alle Aspekte angemessen beachten. Dann ist auch die Chance größer, dass wir die Prozessqualität mit einem Workflow verbessern.

  1. Der erste und wichtigste Aspekt ist die Kommunikation mit dem Kunden, der hier reklamiert. Eine schnelle Rückmeldung, dass wir die Reklamation zur Kenntnis nehmen, dass wir die Enttäuschung bedauern und uns um die Sache kümmern, ist unbedingt notwendig. Es geht um offene Kommunikation und ständige Rückmeldung.
  2. Dann kommt die Sachebene: Wir sorgen dafür, dass unser Kunde die Leistung bekommt, die ihm zusteht. Wir entschädigen ihn für den entstandenen Ärger und den Zeitverlust.
  3. Manchmal kommt es aber auch vor, dass wir eine Reklamation sachlich ablehnen müssen. Wenn regelmäßig Schäden moniert werden, die kein Reklamationsgrund sind, dann brauchen wir auch das Kreuz, Ansprüche abzuwehren. Dabei ist immer abzuwägen: Wann ist der negative Effekt einer Ablehnung teurer als die Regulierung der Reklamation? In jedem Fall ist gerade jetzt die Qualität unserer Kommunikation umso wichtiger.
  4. Fehler und Reklamationen für die Zukunft vermeiden. Jeder Fehler gibt uns die Chance zum Lernen – das klingt erst einmal wie eine abgedroschene Phrase. Und meistens erleben wir bei „Fehleranalysen“ wieder das große Herumeiern um die Worte „Verantwortung“ und „Schuld“. Fehler und andere unvorhergesehene Ereignisse bieten uns aber die Möglichkeit, unsere eigenen Annahmen, Glaubenssätze und Denk-Konstruktionen zu verstehen. Fehler sind „Fenster zum System“. Mit der richtigen Moderationsmethode gelingt es uns, ohne Schuldzuweisung zu lernen. Aber auch das will gelernt sein.
  5. Schließlich treten im Reklamationsprozess viel stärker als anderswo verborgene Verletzungen und Zurücksetzungen im Unternehmen zu Tage. Da stehen alte Rechnungen offen, selbst wenn die damals beteiligten längst nicht mehr im Unternehmen sind. Konflikte schwelen weiter. Wenn wir diese Verletzungen und Konflikte leugnen oder tabuisieren, lösen sie sich nicht auf. Im Gegenteil: sie wirken umso stärker, je mehr wir sie totschweigen. Sie belasten dann auch an sich gute Lösungen auf der Prozessebene. Dann heißt es später „haben wir alles schon versucht, hat nichts geholfen.“ So werden gute Lösungen verbrannt.

Wenn Sie also Ihren Reklamationsprozess digitalisieren wollen, dann behalten Sie im Auge, dass hier auf der Prozessebene nicht die ganze Geschichte erzählt wird. Achten Sie auf die unterschwelligen Belastungen des Prozessteams in der Sozialdimension und der Haltungsebene. Manchmal hilft es, diese Dimensionen mit externer Moderation zu bearbeiten. Gerne diskutiere ich Ihre Herausforderungen mit Ihnen.

(Foto: Santiago Lacarta auf unsplash)

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