Machen Prozesse austauschbar? Digitalisierung braucht Prozesse. Immer mehr übernehmen zentrale Service-Center Leistungen im Unternehmen, immer mehr werden dezentral erbrachte Leistungen standardisiert und von einer zentralen Führung beobachtet, immer mehr greifen Prozesse über Abteilungen hinweg und brauchen standardisierte Übergaben und Zuständigkeiten. Die Aufgaben und Leistungen werden auf diese Weise besser vergleichbar. Also Machen Prozesse austauschbar?
Prozesse und Unternehmenskultur
Dabei sollte uns klar sein: Organisationen leben davon, dass Individuen austauschbar sind. Das ist der Wesenskern von Organisationen und unterscheidet sie von anderen sozialen Systemen wie zum Beispiel Familien. In einer Familie kann man keine Person austauschen – wer schon mal versucht hat, in der Patchwork-Familie die „Vaterrolle“ zu übernehmen, kennt das. Organisationen hingegen dienen dazu, ihren Zweck unabhängig von Individuen zu erreichen.
Dieser Aspekt von Organisationen wird gerne ausgeblendet. Menschen haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit – Austauschbarkeit passt da nicht zu. In einem vom Arbeitgeber dominierten Arbeitsmarkt ist das eine latente Bedrohung, den Arbeitsplatz zu verlieren. Wenn in einer Beziehung ein Partner „mehr“ austauschbar ist als der andere, ist sie asymmetrisch – ein Partner hat Macht über den anderen. Da will keiner in der „Unten“-Position sein. Die Illusion der eigenen Unverzichtbarkeit wirkt wie ein Schutz für das Selbstwertgefühl. Und je deutlicher Prozesse und Regeln hervortreten, desto mehr schwindet die schützende Illusion. Machen Prozesse austauschbar?
Nun kippen die „Machtverhältnisse“ auf dem Arbeitsmarkt gerade. Unternehmen suchen händeringend Leute. Da sind einige schon versucht, auf Digitalisierung und Prozesse zu verzichten, um attraktiv für analog orientierte Mitarbeiter*innen zu werden. Mir berichtet ein Kunde, dass Bewerber auf Expertenpositionen sein Unternehmen bevorzugen, weil dort nicht alles von der Zentrale gesteuert wird. Das kann man als Kompliment eines Bewerbers verstehen – aber es ist vergiftet: „Kommt bloß nicht auf die Idee, hier Prozesse und Regeln hochzuziehen.“
Warum Austauschbarkeit notwendig ist
Die Systemtheorie hilft uns, Austauschbarkeit uns Prozesse in einem anderen Licht zu sehen: Wir betrachten dabei die Austauschbarkeit als eine lose Koppelung der Personen, im Unterschied zu einer festen Koppelung, wo die Personen fest zusammenbleiben. Gleichzeitig schauen wir darauf, wie strikt die Aufgaben und Tätigkeiten festgelegt sind. In einer Festen Koppelung von Aktionen sind alle Tätigkeiten im Detail geregelt. Was? Wie? In welcher Reihenfolge? – alles festgelegt. Bei einer losen Koppelung von Aktionen macht jede Einzelne, was sie für richtig hält. Das fordert Erfahrungswissen und Vertrauen.
Bei genauerem Hinsehen erkennen wir für diese Koppelungen ein auffälliges Muster: Sie verhalten sich meistens gegenläufig. Je fester die Personen miteinander gekoppelt sind, desto loser ist die Koppelung der Aktionen. Und umgekehrt. Wenn Sie mit einem Call-Center telefonieren, kann der Agent am anderen Ende nur ganz bestimmte Aufgaben mit ihnen erledigen und Sie ärgern sich, wenn es für Ihr Anliegen keine Regelung gibt. Wenn Sie wieder dort anrufen, haben Sie es mit einem anderen Agenten zu tun. Versuchen Sie nicht, sich die Namen zu merken.
Umgekehrt gilt: Je stärker die Koppelung zwischen den Akteuren ist, desto loser müssen die Aktionen gekoppelt sein. Eine Task Force zur Lösung eines komplexen unbekannten Problems wird aufgrund der personellen Kompetenzen zusammengesetzt, dabei ist zunächst unklar, was die Personen genau tun.
Die folgende Grafik verdeutlicht den Zusammenhang. Wir sehen auf der einen Seite (senkrecht) die Koppelung der Aktionen: von unten „fest“ nach oben „lose“. Eine feste Koppelung der Aktionen besagt, dass die Auswahl der möglichen Aktionen eingeschränkt ist, die Reihenfolge feststeht und auch die Art und Weise (Werkzeuge, Formulare, Software) vorgegeben sind. Bei einer losen Koppelung von Aktionen entscheidet der Akteur selbst, was er wann wie tut.
Auf der Waagerechten sehen wir die Koppelung der Akteure, also die Frage wer mit wem welche Arbeit macht. Von links „fest“ nach rechts „lose“. Feste Koppelung der Akteure bedeutet, dass immer dieselben Personen miteinander zusammen sind und nur wenige Personen in der Lage sind, eine Arbeit zu erledigen. Lose Koppelung von Akteuren heißt, dass die Handelnden beliebig ausgetauscht und zusammengesetzt werden können.
Zwischen diesen Polen der Koppelung bewegen sich alle sozialen Systeme. Familien und Teams tendieren zum Pol „feste Koppelung Personen“, Organisationen eher zum Pol „feste Koppelung Aktionen“. Die einen mehr, die anderen weniger. Wenn Systeme aus dieser Gesetzmäßigkeit ausbrechen, sind Probleme absehbar. In Behörden zum Beispiel sind Aktionen und Akteure eng gekoppelt – eine mögliche Erklärung für den hohen Krankenstand im öffentlichen Dienst.
Nutzen für das Prozessmanagement
Aus diesem Zusammenhang lassen sich einige Schlüsse für Prozessmanager ziehen:
Erstens: Eine Veränderung auf der einen Dimension zieht immer eine Veränderung auf der anderen Dimension mit sich. Wenn ich die Fluktuation in meinem Unternehmen minimieren will (festere Koppelung der Personen), dann brauche ich eine losere Koppelung der Aktionen. Ich muss mir also überlegen, wie ich für Abwechslung in den Tätigkeiten sorge oder wie ich Gestaltungsspielräume aufmache. Das ist häufig ein Problem, weil Führungskräfte in Situationen mit starker Fluktuation eher dazu neigen, die Dinge noch stärker zu regeln, damit sie schneller neue Leute einarbeiten können.
Zweitens: Ich kann nicht beide Dimensionen in die gleiche Richtung bewegen. Wenn alle Mitarbeiter an neue Aufgaben oder Arbeitsweisen herangeführt werden sollen, weil sich Prozesse, Tätigkeiten oder Software ändern (losere Koppelung der Aktionen), dann kann ich nicht gleichzeitig die Arbeitsplätze in Frage stellen (losere Koppelung der Personen). Wenn Sie in einer Restrukturierung genau diese Situation vor sich haben, sind Sie als Führungskraft noch mehr gefragt, die Koppelung der Personen über Aufmerksamkeit und Zuwendung auf der persönlichen Ebene zu stärken. Viele Führungskräfte scheuen aber bei Restrukturierung den engen Kontakt mit ihren Mitarbeitern und ducken sich weg.
Drittens: Im Qualitätsmanagement haben wir oft die Aufgabe, für eine höhere Zuverlässigkeit und Wiederholbarkeit von Prozessen zu sorgen – also Aktionen fester zu koppeln. Wenn wir den Zusammenhang der Koppelung vor Augen halten, wird deutlich: wir müssen dazu die Koppelung der Personen lockern – sonst gibt es Probleme. Fluggesellschaften sorgen zum Beispiel für Fluktuation im Cockpit, indem sie die Kombination Pilot – Copilot häufiger wechseln. Dieselben zwei Personen begegnen sich nur selten in einer Schicht. Das stärkt die feste Abfolge der Checks und Routinen.
Machen Prozesse austauschbar?
Klar. Je stärker wir die Aktivitäten, Systeme und Zuständigkeiten in Prozessen regeln, desto unabhängiger werden wir von einzelnen Personen. Das ist notwendig, damit das Unternehmen überleben kann – die Abhängigkeit von einzelnen Mitarbeitenden kann sich kein Unternehmen leisten. Diesen Anspruch müssen wir auch offen vertreten – das ist das Überlebensinteresse jeder Organisation. Aber diese Unabhängigkeit muss nicht zur beliebigen Austauschbarkeit werden. Führung bedeutet, dass wir das Bedürfnis der Personen nach Zugehörigkeit und Anerkennung wichtig nehmen. Richtig verstandenes Prozessmanagement geht einher mit Wertschätzung für die Kompetenz und die Erfahrung der Prozessbeteiligten. Darum ist die Haltung einer Moderation im Prozessworkshop so wichtig.
Und ein weiteres Bedürfnis der Menschen befriedigen in gut geregelten Prozessen: Niemand will mit „Pfusch“ arbeiten. Dinge halbfertig liegenlassen, weil Teile oder Informationen fehlen, geht jedem professionell arbeitenden Menschen gegen den Strich. Wir alle wollen unsere Arbeit „gut“ machen. Schlecht organisierte Zusammenarbeit in Prozessen hindert uns daran. So verstanden können wir mit gut organisierten Prozessen dazu beitragen, dass Menschen sich in der Zusammenarbeit anerkannt und wertgeschätzt fühlen. Dann stellt sich das Thema der Austauschbarkeit nicht mehr in dem Maß.
In meinem Buch „Systemisches Prozessmanagement“ diskutiere ich besonders die Bedürfnisse von Menschen in Prozessen und die Bedeutung von Resonanz in unseren Arbeitsbeziehungen. Hier können Sie eine kostenfreie Leseprobe herunterladen.