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Welche Persönlichkeitstests sind brauchbar? In einem der letzten Beiträge habe ich über den Einsatz eines Persönlichkeitsprofils im Coaching für Führungskräfte berichtet. Damit kann ein Coachee sein eigenes Selbstbild mit dem Fremdbild, zum Beispiel aus der Perspektive der eigenen Vorgesetzten oder von Mitarbeitern, vergleichen. Aber liefert so ein Fragebogen wirklich eine valide Rückmeldung? Dazu sage ich ganz klar „ja“! Ich nutze dafür das Instrument des Bochumer Inventars (BIP). Warum, und was es von anderen Persönlichkeitstests unterscheidet, erläutere ich gern. Achtung: dieses Mal ist es ein etwas längerer Beitrag. Aber ich denke, mitnichten langweilig, sondern lohnend zu lesen. Versprochen!

Beruflicher und / oder privater Kontext der Fragen?

In allen angebotenen Fragebogen beantworten wir Fragen zu unserem Verhalten, zu unserer Wahrnehmung und zu unseren Empfindungen in verschiedenen Situationen. Aus unseren Antworten leitet das Verfahren Aussagen über Eigenschaften der Persönlichkeit ab. Zu welchen Eigenschaften man Aussagen erhält, ist bei den verschiedenen Verfahren unterschiedlich.

Da ich Menschen ausschließlich im beruflichen Umfeld berate, achte ich darauf, dass die beschriebenen Eigenschaften für das berufliche Leben relevant sind und sich auch die Fragen ausschließlich auf das berufliche Feld beschränken. Ich möchte mir nicht anmaßen, in die Privatsphäre meiner Klienten zu greifen. Dies schränkt die Auswahl der möglichen Verfahren ein, denn Verfahren aus dem therapeutischen Umfeld scheiden damit aus.

Typentest oder Persönlichkeitsprofil?

Die Verfahren von Persönlichkeitstests unterscheiden sich elementar  dahingehend, ob ein Persönlichkeitsprofil oder ein Persönlichkeitstyp erstellt wird. Viele Verfahren beschreiben die Eigenschaften als Dimensionen der Persönlichkeit, die bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. So sind einige Menschen sehr stark leistungsorientiert, aber vielleicht weniger gewissenhaft und mittelmäßig sozial verträglich. Andere zeigen eine hohe Gewissenhaftigkeit, aber geringere Dominanz. Die Kombination der Merkmale und ihrer Ausprägung ist unbegrenzt. Damit versucht man, der Vielfalt der Menschen und ihrer Persönlichkeiten gerecht zu werden.

Rot – Grün – Blau – Gelb?

Andere Verfahren ordnen die Klienten verschiedenen Persönlichkeitstypen zu. So unterscheidet das „DISG-Modell“ die vier Typen „Dominant, Initiativ, Stetig und Gewissenhaft“ mit einigen Abstufungen zwischen den Typen. Die Typen werden auch mit Farben (grün, rot, gelb, blau) bezeichnet. Der „Myers-Briggs-Typen-Indikator“ (MBTI) unterscheidet 16 Typen. Gegenüber der schier unendlichen Kombinationsmöglichkeit eines Persönlichkeitsprofils ist eine solche Typenbildung also stark vereinfacht.

Diese Einfachheit erklärt vielleicht die Popularität der Typentests. Man muss sich nicht großartig mit den Merkmalen befassen, um zu Aussagen über die Persönlichkeit zu kommen. Ich persönlich möchte meinen Klienten aber eine differenzierte Rückmeldung geben können und sie nicht auf Typen reduzieren. Darum verwende ich in der Beratungspraxis keine Typentests.

Was bedeutet eigentlich „Persönlichkeit“ bei Persönlichkeitstests?

Persönlichkeit umfasst in der Psychologie die individuellen Besonderheiten eines Menschen, die sein Verhalten dauerhaft prägen (und nicht krankhaft bedingt sind). In der psychologischen Forschung hat sich bestätigt, dass es in der

Persönlichkeit erwachsener Menschen weitgehend stabile Merkmale gibt. Die werden häufig also die berühmten „Big 5“ beschrieben: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Ängstlichkeit. In der englischen Form bilden sie das Akronym OCEAN (Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeability, Neuroticism). Wie stark diese Merkmale bei einem einzelnen Menschen ausgeprägt sind, beeinflusst, wie sich dieser Mensch voraussichtlich in verschiedenen sozialen Situationen verhält. Dieses grundlegende Modell wurde im Laufe der Zeit von Wissenschaftlern in unterschiedliche Perspektiven von Persönlichkeitstests differenziert.

Das BIP-Verfahren konzentriert sich auf Berufliches

Das von mir verwendete Verfahren, das „Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung“, konzentriert sich auf Merkmale, die im beruflichen Kontext von Bedeutung sind. Dies sind

  • Berufliche Orientierung (Leistungsmotivation, Gestaltungsmotivation, Führungsmotivation und Wettbewerbsorientierung)
  • Arbeitsverhalten (Gewissenhaftigkeit, Flexibilität, Handlungsorientierung, Analyseorientierung)
  • Soziale Kompetenzen (Sensitivität, Kontaktfreudigkeit, Soziabilität, Teamorientierung, Durchsetzungsstärke, Begeisterungsfähigkeit)
  • Psychische Konstitution (Emotionale Stärke, Belastbarkeit, Selbstbewusstsein)

Normgruppe schafft Vergleichbarkeit

Das Ergebnisprofil zeigt für jedes dieser 17 Merkmale, wie stark dieses Merkmal in der Selbst- oder Fremdbeschreibung einer Person ausgeprägt ist. Diese Ausprägung wird immer verglichen mit einer sehr großen Normgruppe von Teilnehmenden dieses Verfahrens. Auf einer Skala von 1 bis 10 besagt zum Beispiel ein Wert von 8, dass etwa 9 % der Normgruppe gleich ausgeprägt sind und 84 % einen geringeren Wert zeigen. Nur ca. 6 % zeigen eine höhere Ausprägung.

Normierung von Persönlichkeitstests

Normierung von Persönlichkeitstests mit der Normalverteilung

Mit dieser „Normierung“ der Skala können wir die Beobachtung aus dem Profil in einem größeren Kontext sehen. Eine Person mit einem Wert von 8 für „Gestaltungsmotivation“ ist also schon sehr viel stärker als andere daran interessiert, seine Arbeitsumgebung und -Ergebnisse selbst zu gestalten. Ein Arbeitsumfeld, das wenig Gestaltungsspielraum lässt, würde für diese Person wahrscheinlich viel Konfliktpotenzial bergen.

Aus der Normgruppe wissen wir aber auch, welche Kombinationen dieser 17 Merkmale häufiger anzutreffen sind als andere. So geht eine hohe Gewissenhaftigkeit seltener mit hoher Führungsmotivation einher, eine hohe Gestaltungsmotivation hingegen häufig mit einer hohen Durchsetzungsstärke. Vor dem Hintergrund dieser Regelmäßigkeiten können wir auffällige Kombinationen erkennen und diskutieren.

Wozu dienen die Rückmeldungen aus Persönlichkeitstests?

Grundsätzlich gibt es kein „gutes“ oder „weniger gutes“ Persönlichkeitsprofil. Jede Persönlichkeit ist individuell. (In meiner rheinischen Heimat habe ich gelernt: „Jeder Jeck ist anders.“) Wir können aber das soziale Verhalten von einzelnen Menschen im Beruf besser verstehen, wenn wir auf ihre Persönlichkeitseigenschaften schauen. So können komplementäre Eigenschaften zweier Menschen ein Konfliktgeschehen verstärken. Wir können auch darauf schauen, in welchen Tätigkeiten oder Führungskonstellationen eine Person sich aufgrund ihrer Persönlichkeit leichter zurechtfindet.

Sehr viel Erkenntnis ziehen wir in der Regel aus der Spannung zwischen dem Selbstbild einer Person und dem Fremdbild, das sie von anderen bekommt. Wir erfahren dann, wie eine Person sich selbst sieht und welches Bild sie (unwillentlich) nach außen abgibt. So kommt es vor, dass Personen, die sich selbst als wenig selbstbewusst wahrnehmen, von außen als selbstbewusst, kontaktstark und durchsetzungsstark beschrieben werden. Offenbar gelingt es der Person, ihre Selbstzweifel in ihrem sozialen Verhalten zu kompensieren.

Selbstbild und Erwartungen an die Rolle

Neben der Selbst- und Fremdbeschreibung bietet das BIP auch eine Anforderungsbeschreibung. Hier können wir die Erwartungen an eine bestimmte Rolle (Stelle) im Unternehmen anhand dieser 17 Merkmale beschreiben. Mit dieser Anforderungsanalyse und der Selbstbeschreibung einer Person können wir diskutieren, wie wahrscheinlich diese Person die in die Rolle gesetzten Erwartungen erfüllt.

Im Coaching entdecken wir auch schon viel Entwicklungspotenzial, wenn ein Coachee seine Anforderungen an die eigene Rolle mit seiner eigenen Selbstbeschreibung vergleicht.

Ein Selbst- oder Fremdbild anhand des BIP ist immer eine Beschreibung der Persönlichkeit aus der Perspektive des Ausfüllers. Ob die Person „tatsächlich“ so ist, wie sie sich selbst oder eine andere Person sie sieht, können wir nicht wissen. Das eigentliche „Ich“ bleibt dem Verfahren weitgehend verborgen – und das ist gut so. Ein Persönlichkeitsfragebogen ist kein Lügendetektor. Im Coaching oder in der Eignungsdiagnostik bieten wir den beteiligten Personen mit dem Profil eine zusätzliche Perspektive auf ihre Herausforderungen, die meiner Erfahrung nach wertvolle Erkenntnisse und Handlungsoptionen eröffnet.

Wie ich Persönlichkeitstests  in der
Beratungspraxis einsetze

  • In der Eignungsdiagnostik helfe ich Unternehmen, passende Personen für die offenen Rollen im Unternehmen zu finden. Dazu frage ich mit dem BIP-Anforderungsinventar zunächst nach den Erwartungen der beteiligten Personen im Unternehmen (zum Beispiel Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeitende, Kunden etc.). Daraus entsteht ein Profil über die überfachlichen Anforderungen. Sehr häufig aber auch ein sehr uneinheitliches Bild dieser Anforderungen. Das liefert uns dann die Gelegenheit, die Erwartungen zu diskutieren.
  • Wenn ein Unternehmen ein solches Persönlichkeitsprofil der Bewerbenden nutzen will, um die überfachlichen Eigenschaften in der Eignung zu beleuchten, dann unterstütze ich gerne dabei. Im Idealfall gewinnen die Personaler und Führungspersonen zunächst ein erstes eigenes Bild durch ein Interview mit der Person und lassen danach einen BIP-Fragebogen bearbeiten.
  • Ich helfe dann, die Rückmeldungen des Persönlichkeitsprofils zu interpretieren und mit den Erkenntnissen aus dem ersten Interview abzugleichen. Daraus ergeben sich wertvolle Hinweise, welche Themen in einem folgenden Gespräch eingehender beleuchtet werden können. Daraus gewinnen wir sehr „reichhaltige“ Interviews, die erfahrungsgemäß auch von Bewerbenden als wertschätzend und interessiert wahrgenommen werden. Das erste Gespräch vor der Auswertung gibt uns die Chance, zwei voneinander unabhängige Sichten zu gewinnen.
  • Im Coaching für Führungskräfte arbeite ich gerne mit dem Anforderungsinventar, der Selbstbeschreibung und der Fremdbeschreibung durch die vorgesetzte Person. Die verschiedenen Perspektiven helfen meinen Coachees, ihr Führungsverhalten und ihre eigenen Erwartungen an sich selbst zu reflektieren.
  • In meinem Führungs(kräfte)-Entwicklungsprogramm „Verantwortung übernehmen“ dient das BIP dazu, über die eigene Person, die Rolle, die Erwartungen an mich als Führungsperson und meine eigene berufliche Planung nachzudenken.
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Schäffer-Poeschel, Oktober 2021

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