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Wie kann man Agilität wirklich umsetzen? Viele Unternehmen verändern gerade ihre Arbeits- oder Führungsstrukturen und orientieren sich dabei an so etwas wie „agil“. Das bedeutet, dass sie Entscheidungen stärker im Team als in der Hierarchie treffen wollen, dass sie Arbeit transparent machen wollen, dass sie die Kunden von Prozessen stärker in die Kommunikation einbinden wollen, Projekte flexibler und schneller machen wollen. Was aber genau die neue Art der Organisation mit sich bringen soll, muss jede Organisation für sich entscheiden. Und oft gewinnt man den Eindruck, dass die Organisationen das gar nicht wissen.

Agilität wirklich umsetzen

In ihrem Sammelband „New Organizing“ stellt ein großes Forscherteam um die Herausgeber Torsten Groth, Gerhard Krejci und Stefan Günther die Erfahrungen von 13 Großorganisationen mit der Einführung von neuen Organisationsformen zusammen. Das Buch ist aber keine Sammlung von Einzelberichten, sondern alle Berichte folgen einem gemeinsamen Konzept. So können wir Leser die Lerneffekte aus den Fallstudien gut vergleichen und für uns den Honig heraussaugen. Die verschiedenen Spielarten neuer Organisationsformen wie Agilität oder Holokratie fassen die Autoren unter dem Begriff „New Organizing“ zusammen.

Was bringt es in Praxis wirklich?

Die Fallstudien berichten über je eine Organisation, die eine Form von Agilität wirklich umsetzen will. Dabei folgen sie einer gemeinsamen Leitfrage: Wie organisieren die Unternehmen tatsächlich ihre tägliche Praxis? Setzen sie die neuen Strukturen wirklich um? Passen sie sie in der Praxis kreativ an? Verändern sie die Vorgaben im Laufe des Projekts? Lehnen sie die neuen Organisationsformen vielleicht ab? Oder – auch das ist möglich – ignorieren sie einfach die Initiative und arbeiten weiter wie bisher? Diese Leitfrage finde ich entscheidend – denn es geht nicht darum, wie neue Teamstrukturen oder Entscheidungsprozesse im Design gestaltet werden. Am Ende geht es darum, wie in der Praxis gearbeitet wird.

Mit dem Wissen um diese praktische Ausgestaltung stellt sich die Frage nach der Wirkung. Ändert sich die Leistung der Organisation, welche Auswirkung hat das auf die Mitarbeiter, die Führungskräfte, die Kunden, die übrigen Stakeholder im (Konzern-)Unternehmen? Dabei beeindruckt mich besonders die Weigerung der Autoren, zu werten. Agil ist nicht besser als „nicht agil“, „Veränderung“ nicht besser als „Beharrung“. Auch in Bezug auf die Wirkung von Veränderung (oder Nicht-Veränderung) enthalten sie sich einer Wertung. Mehr Umsatz, weniger Ausschuss, höhere innere Spannungen, mehr auftretende Konflikte, höhere Fluktuation: Was auch immer als Auswirkung von den Beteiligten beobachtet wird – es kann für die Organisation immer positive oder negative Bedeutung haben. Eine vorschnelle Wertung würde den Blick auf mögliche andere Auswirkungen verstellen. Zu dieser offenen Haltung in Veränderungsprojekten habe ich in meinem Blog bereits geschrieben.

Gemeinsame Leitfrage und Gliederung

Alle Fallstudien folgen einer gemeinsamen Gliederung. Das macht es einfach, den roten Faden über alle vorgestellten Initiativen zu verfolgen.

  • Was ist der Kontext des Unternehmens – mit welcher „Kernparadoxie“ hat das Unternehmen zu schaffen?
  • Was ist der Anlass dafür, Formen von New Organizing einzuführen?
  • Wo im Unternehmen werden neue Organisationsformen eingeführt?
  • Wie ändert sich dadurch die Praxis der Zusammenarbeit?
  • Welche Konfliktmuster treten dabei auf, wie werden Paradoxien bearbeitet?
  • Wie geht es in diesem Unternehmen weiter?

Agile Tochter im hierarchischen Konzern

Eine der Fallstudien schildert ein Tochterunternehmen in einer Konzernstruktur. Die Tochter entwickelt Software für die Nutzung im Konzern. Hier stellt die Entwicklungsschmiede auf agile Arbeitsweise um, während der Konzern unverändert an einer hierarchischen Struktur festhält. Interessant ist, dass das Konzept „Agil“ hier in beide Richtungen als Abgrenzung funktioniert: Im inneren schafft die Organisationsform Identität, nach außen zum Konzern verschafft das Konzept Beinfreiheit – oder vielleicht „Narrenfreiheit“. Die Geschäftsführung kann damit einen Schutzraum für eine Lernkurve des Unternehmens schaffen.

Man könnte erwarten, dass eine Veränderung von einer top-down-geplanten Projektarbeitsweise zu einer agilen Arbeitsweise, die auf Geschwindigkeit und Flexibilität ausgerichtet ist, Unsicherheit unter den Mitarbeitern verursacht. Die Mitarbeiter hier berichten aber darüber, dass ihnen die neue Organisationsweise Stabilität und Verlässlichkeit gebracht hat. Dieser Effekt hängt gewiss auch mit einer anderen Beobachtung der Autoren zusammen: Agilität kann man nicht agil einführen. Am Ende ist es immer die hierarchische Entscheidung einer Geschäftsführung, den Raum für Agilität zu schaffen und die agile Zusammenarbeit in der Praxis ernsthaft einzufordern. Diese klare Vorgabe schafft dann Stabilität und Verlässlichkeit für Mitarbeiter.

Andererseits liegt aber gerade in der Unschärfe des agilen Konzepts ein Erfolgsfaktor dieses Unternehmens: Agilität wurde als zum Teil vages Konzept, als „Mindset“ verstanden, dessen konkrete Umsetzung in genau umzusetzende Routinen noch offen ist. So musste man bei Rückschlägen nicht das Projekt als Ganzes in Frage stellen, sondern konnte für sich feststellen, dass „wir noch nicht soweit“ sind – alle gemeinsam also noch auf der Lernkurve üben und sich verbessern können.

Kritische Fallstudien statt Best Practice

Diese Fallstudien sind keine „Best-Practice-Beispiele“. Die Autoren bauen keine schöne Schauseite von Agilität und Veränderung auf. Der gemeinsame theoretische Rahmen schafft die Möglichkeit, aus jeder einzelnen Studie oder aus der Zusammenschau aller Beispiele Lernergebnisse mitzunehmen, wie man Agilität wirklich umsetzen kann. Und weil die vorgestellten Unternehmen dabei nicht immer ihre Schokoladenseite zeigen, bleiben sie größtenteils anonym. Allein dieser Umgang mit Praxisbeispielen ohne Selbstdarstellungseffekt macht das Buch ausgesprochen lesenswert.

Selber Klarheit über Agilität finden

Bei Ihnen im Unternehmen steht auch gerade „irgendwas mit agil“ an? Vielleicht wissen Sie noch nicht, ob dieses „New Organizing“ eine hippe Modeerscheinung ist oder ob da wirklich „was drin“ ist für Ihr Unternehmen. Wenn Sie darüber mehr Klarheit erreichen wollen, schlage ich Ihnen ein Beratungsgespräch darüber vor. Schreiben sie mir einfach von Ihren Herausforderungen, Plänen und Gedanken. Dann vereinbaren wir einen Gesprächstermin.

Buchcover Systemisches Prozessmanagement
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„Systemisches Prozessmanagement: Unternehmen digitalisieren. Teams mobilisieren.“
Schäffer-Poeschel, Oktober 2021

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