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Ohne den Bruch von Regeln kann keine Organisation auf Dauer bestehen. Zu diesem Schluss kommt der Soziologe Stefan Kühl in seinem hervorragenden Buch „Brauchbare Illegalität: vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“. Es ist ein aktueller Hype, Unternehmen für alles Mögliche zu zertifizieren und für Good Governance zu feiern. Stefan Kühl beschreibt dagegen, wie Compliance die Schauseite der Unternehmen aufhübscht, während hinter den Kulissen die tägliche Arbeit erledigt wird.

Je lauter ein Unternehmen nach außen seine Einhaltung von Chancengleichheit, Transparenz oder Nachhaltigkeit preist, desto eher lohnt der genaue Blick in die tägliche Praxis, so seine Vermutung. Die gelebte Kultur im Unternehmen ist eben nicht auf den ersten Blick sichtbar.

Drei Spielarten für den Regelbruch

Kühl unterscheidet dabei verschiedene Arten für den Regelbruch: Zum einen sieht er einen Unterschied zwischen Verstößen gegen staatliche Gesetze und Übertretungen von internen Anweisungen der Organisation (letztere werden in Unternehmen meist stärker sanktioniert). Zum anderen unterscheidet er, ob Regelverstöße zum Vorteil des einzelnen Organisationsmitglieds oder zum Nutzen der Organisation begangen werden.

Dabei stellt er fest, dass alle diese Regelbrüche für Organisationen nützlich und notwendig sind. Offenbar kommt es dabei auf das Maß an. Der relevantere Unterschied ist daher der zwischen Organisationen mit eingehegter oder mit entgrenzter Illegalität.

Unternehmen agieren in Märkten und gesellschaftlichen Umfeldern, die sich ständig verändern (5 € ins Phrasenschwein…) und deren Ansprüche nicht vorhersehbar sind. Die Interessen der verschiedenen Stakeholder sind nicht widerspruchsfrei. Es ist also schon logisch ausgeschlossen, dass ein Regelwerk für Entscheidungen und Kommunikationswege in Organisationen alle auftretenden Entscheidungsfälle abdeckt. Management wäre dann nur noch „Malen nach Zahlen“.

Auch rechtliche Rahmenbedingungen können gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Realität nur annähernd aufgreifen – sie hinken der Entwicklung ständig hinterher und müssen sich in der Rechtspraxis immer neu ausbalancieren. Bei Entscheidungen können Manager nicht vorher die Legalität jeder Entscheidung prüfen – häufig entscheiden sie im Graubereich und müssen damit leben, dass Klarheit erst im Nachhinein geschaffen wird.

Innovationen im Graubereich

Drei Aspekte dieses Buches beeindrucken mich besonders: Erstens die Desillusionierung über das so genannte Innovationsmanagement. Ich habe ja selbst eine Ausbildung zum Design Thinking Coach und fühlte mich ertappt, als Kühl den erfolglosen Versuch beschreibt, Kreativität in geordnete Bahnen zu lenken und vorherzuplanen.

Innovation geschieht dagegen meistens dezentral: Menschen kämpfen mit einer Herausforderung und probieren solange herum, bis ihnen eine bessere Lösung kommt. Die testen sie, passen sie an und setzen sie um. Wenn sie gut ist, setzt sie sich durch. Das Management erfährt davon erst ziemlich spät. Und wäre die Compliance-Abteilung von Anfang an im Bilde, wäre die Innovation schon im Keim erstickt.

Das Narrativ der gefeierten Innovatoren ist ja nicht, dass Business-Leader einen Bedarf erkennen, ein Projekt aufsetzen und ein Team den Projektplan Schritt für Schritt abarbeitet. Wir feiern vielmehr die Regelbrecher, denen Großartiges gelingt, obwohl ihnen die Organisation Steine in den Weg gelegt hat.

Wie Illegalität gelernt wird

Die zweite wichtige Erkenntnis des Buchs ist der Prozess, wie Regelabweichungen in Organisationen gelernt und tradiert werden und wie sie schleichend immer mehr Raum einnehmen. Der Schritt von der eingehegten zur entgrenzten Illegalität ist oft nur marginal. Irgendwann verselbständigt sich der Prozess und gerät außer Kontrolle.

Werden Skandale schließlich bekannt, fragen sich alle, wie das denn nur passieren konnte und wie es sein kann, dass das Management davon nichts gewusst haben soll. Die öffentliche Skandalisierung behindert dann aber die nüchterne Analyse, wie das Netz von Regelabweichungen sich im Unternehmen immer weiter ausbreiten konnte.

Reflexe auf Skandale

Und schließlich zeigt Kühl die üblichen Reaktionen auf das öffentliche Bekanntwerden von Regelverstößen. Die geradezu reflexartigen Reaktionen der Unternehmen sind dabei in Wirklichkeit kontraproduktiv. Zunächst werden die organisatorischen Aufsichtseinheiten gestärkt – Compliance oder Qualitätsmanagement. Häufig bekommen sie auch eine hierarchisch höhere Aufmerksamkeit. Entscheidungen werden in der Folge immer öfter von Personen (mit)bestimmt, die von der Sache wenig verstehen.

Dann bemühen sich Organisationen, ihre Regeln zu „konkretisieren“. Die Spielräume für Entscheidungen im Alltag werden also enger – gerade so, als könnte man alle auftretenden Entscheidungen vorhersagen und durch Regeln abfangen. Je dichter das Netz von Regeln, desto häufiger ist aber der Regelbruch.

Und schließlich tauschen sie das Personal aus. Bei Stellenbesetzungen gewinnt dann die Legitimität der Organisation einen höheren Stellenwert als die fachliche und persönliche Passung.

Führen ist Ausbalancieren

Fazit: Führung in Unternehmen kann nicht die stringente Kontrolle von Regeln bedeuten – sie ist vielmehr ein ständiges Ausbalancieren zwischen Konformität und Abweichung. So zeigt sich auch hier: Führung ist die Fähigkeit, Dilemmata dauerhaft auszuhalten.

Ich empfehle auch sehr gerne den Podcast von Stefan Kühl: Der ganz formale Wahnsinn

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