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Alle reden von Digitalisierung – aber keiner schafft’s. 85 % aller Digitalisierungsprojekte scheitern. Zu dieser niederschmetternden Erkenntnis kommen die Wissenschaftler Michael Wade und Jialu Shan. „Scheitern“ bedeutet dabei: Der vom Projekt erhoffte Nutzen für die Organisation stellt sich nicht ein. In seiner Masterarbeit an der Universität Bayreuth hat Maximilan K. Deist nach den Gründen dafür gefragt. Die Arbeit wurde mit dem GFO-Student Award 2021 der Gesellschaft für Organisation ausgezeichnet. Sein Ergebnis: Digitale Transformationsprojekte scheitern, weil die dazu notwendige Entwicklung der Unternehmenskultur vernachlässigt wird.

Blauäugige Business Cases

Bevor ein Projekt an den Start geht und Budget erhält, braucht es in der Regel einen Business Case. Hier argumentieren die Personen, die das Projekt betreiben wollen, welchen Nutzen Sie für das Unternehmen erwarten, welche Kosten sie dafür veranschlagen und (idealerweise) wie das Projekt die strategischen Ziele des Unternehmens fördert. Dabei zeigt sich schon die erste Krux aller Projekte: Der Business Case wird aus der Warte derer geschrieben, die das Projekt realisieren wollen. Erwarten Sie also nicht zu viel Objektivität!

In meiner Beratungspraxis habe ich schon viele Business Cases gesehen, die einen atemberaubenden Return on Invest ausweisen. Das Geheimnis liegt häufig in der Magie der großen Zahl: Mit einer hohen Fallzahl multipliziert ergeben selbst marginale Effizienzsteigerungen noch beachtliche Einsparpotenziale.

Ob diese Potenziale aber tatsächlich irgendwann gehoben werden, steht auf einem anderen Blatt. Und dann ist das Projekt auch längst abgefrühstückt, die Projektmanager haben ihre Gratifikation erhalten und sind schon zum nächsten Projekt weitergezogen.

Digitalisierung und Unternehmenskultur

Schon bei der Anforderungsanalyse zeigt sich, dass die Unternehmenskultur als Nebensache gesehen wird. Digitalisierung heißt häufig, dass Informationen überall geteilt sind, Entscheidungen partizipativ erfolgen und die Arbeit im Team transparent wird. Aber ist das in der Organisation wirklich gewollt? Oder hätte das Management nur gerne, dass es so wäre – oder vielmehr: dass es so aussähe? Es gibt tatsächlich Manager(innen), die glauben, sie könnten mit Einführung einer Knowledge Base die Unternehmenskultur von „Wissen Horten“ auf „Wissen Teilen“ umstellen.

„Shifting Targets:“ Wenn sich die Anforderungen ändern

Spätere Änderungen der Projektanforderungen zwingen viele Projekte in die Knie. Mal passiert das schleichend (dann sprechen Projektmanager von scope creep), mal grundstürzend. Als Gründe werden dann „veränderte Umweltbedingungen“ angeführt. In Wirklichkeit sind es eher übersehene Umweltfaktoren, die sich später doch als relevant zeigen. In der Anforderungsanalyse wollte man „kein zu großes Fass aufmachen“ und hat diese Faktoren ausgeblendet. Sehr häufig sind solche Änderungen aber auch die Folge von Machtverschiebungen im Management – wer sich bei der Anforderungsanalyse nicht hat durchsetzen können, bekommt irgendwann Oberwasser und wittert Morgenluft. Es zeigt sich immer wieder: Anforderungen sind nicht objektive Fakten, sondern soziale Konstrukte.

Change Management bei Digitalisierungsprojekten

Das dicke Ende kommt dann beim so genannten Roll-Out. Eigentlich ist das Projekt „fertig“, jetzt soll der Nutzen nur noch an alle Beteiligten „ausgerollt“ werden. Aber die fühlen sich eher „überrollt“ und die Change Manager stellen verwundert fest: Das angekündigte Commitment aller steht nur auf dem Papier. Im echten Leben erfahren Menschen erst jetzt von dem Projekt, dass doch monatelang „rauf und runter“ kommuniziert wurde. Und „urplötzlich“ werden skeptische Stimmen laut und bringen Diskussionen auf den Tisch, die doch „schon längst“ geklärt waren.

Was ist da passiert? Die Projektverantwortlichen sind voll auf ihr Ding fixiert und sprechen kaum noch über was anderes. In ihrer Wahrnehmung ist ihr Projekt DAS Thema schlechthin. Dass es im Unternehmen Menschen gibt, an denen die Kommunikation spurlos vorbei geht? „Unmöglich!“ Sie unterschätzen dabei die Pufferkompetenz in Organisationen: Wenn man im Unternehmen ständig Ankündigungen über irgendwelche Projekte und Änderungen wahrnehmen soll, geht die Kommunikation irgendwann im Rauschen unter. Wer seine Arbeit noch konzentriert schaffen will, muss dieses Rauschen ausblenden. Axel Koch beschreibt den Effekt hervorragend in seinem Buch „Change mich am Arsch„. 

„Bremser“ sind Bewahrer von Wertvollem

Im Umgang mit zögernden und skeptischen Personen zeigt sich aber auch eine problematische Haltung von Change Managern. Widerstand in Projekten ist nervig und hält auf, wo doch die Zeit drängt. Wer Zweifel äußert, wird zum Bedenkenträger gestempelt oder als „Bremser“ gebranntmarkt. Skeptiker sind dagegen oft die Bewahrer von Werten. Dafür verdienen sie Anerkennung und Wertschätzung (ja – auch wenn es schwerfällt!). Wer sie ausblendet, verletzt sie – und das macht sie umso lauter, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Widerstand ist ein Hinweis auf übersehene Werte – die gilt es zu benennen und in einem neuen Rahmen zur Geltung zu bringen.

Digitalisierung fordert Kulturveränderung

Es gilt mittlerweile als Binsenweisheit, dass Digitalisierung Kulturveränderung fordert. Schauen wir also auf die gelebte Kultur des Unternehmens, bevor wir digitale Projekte auf Stapel legen. Wenn diese Kultur noch nicht „reif“ ist für neue (digitale) Formen der Zusammenarbeit, dann wird es bei der Einführung erheblich rumpeln. Ist die Organisation wirklich schon partizipativ ausgerichtet oder „herrscht“ noch die Hierarchie? Zählt „Wissen Teilen“ wirklich – oder hat am Ende den Vorteil, wer Wissen hortet? Wird Kundenorientierung gelebt oder nur behauptet? Beruht Transparenz auf Gegenseitigkeit oder ist „Transparenz“ ein beschönigender Ausdruck für „Kontrolle“?

Wenn wir solche Diskprepanzen ignorieren, laufen wir Gefahr, dass unser Projekt steckenbleibt. Darum ist es klug, die Kulturentwicklung begleitend anzugehen. Dabei geht es um Teams und Führung, um Vertrauen, Diversität und Fehlertoleranz.

Anmerkung zur Quelle: Das verlinkte Interview mit Michael Wade und Jiasu Shan ist nur für Abonnenten der Zeitschrift MISQE zugänglich. Bei Interesse fragen Sie mich nach einer Kopie des Artikels.

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