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Persönliche Themen gehören nicht ins Unternehmen. Dieser Grundsatz prägt das neue Buch „Die Humanisierung der Organisation“ von Judith Muster, Kai Matthiesen und Peter Laudenbach. Sie schildern darin die problematischen Folgen, wenn Organisationen Anspruch auf „die ganze Person“ erheben. Wenn die Begeisterung für das Unternehmen auch im Privaten verlangt wird oder das Unternehmen sich anschickt, am „Mindset“ seiner Leute herumzuwerkeln, dann wird es schnell übergriffig. (Link zum Buch)

Buchbesprechung: „Die Humanisierung der Organisation“

Manchmal sieht es ja auf den ersten Blick bewundernswert aus, wenn sich ganze Firmen und ihre Belegschaft für eine gute Sache stark machen. Aber dann fragt man sich, wie es um die Grenze zwischen Unternehmen und Personen bestellt ist. Diese Frage habe ich mir auch gestellt, als ich vor Kurzem in Köln die große LGBTQ-Parade „Cologne Pride Parade“ sah. Mir war besonders aufgefallen, dass viele Unternehmen auf der Parade mit eigenen Wagen vertreten waren, wo farblich einheitlich kostümierte Menschen in die Menge winkten oder Give-Aways verteilten. Ich fragte mich, ob es sich ein Unternehmen in dieser traditionell liberalen Stadt überhaupt leisten könnte, bei diesem Event nicht Flagge zu zeigen.

Aber was haben eine Versicherung, eine Sparkasse oder ein Lebensmittelhändler mit den Anliegen der LGBTQ-Community gemein? Wie mobilisieren die Unternehmen ihre Mitarbeitenden, am freien Sonntag bei praller Hitze stundenlang in lustigen Kostümen auf dem Wagen zu stehen und in die Menge zu winken? (Ich unterstelle mal, dass die vielen Menschen auf der Parade nicht bezahlte Schauspieler waren.) Mir ist klar, dass es für Unternehmen angesichts von Bewerbermangel wichtig ist, sich gegen Diskriminierung von Kunden oder Mitarbeitenden zu positionieren. Aber die Slogans zeigten, dass die Unternehmen mehr darstellen wollten. Es ging um Solidarität, Menschenrechte und „Pride“. Dieser Eindruck hat mich berührt.

Die Menschen fühlen sich offenbar nicht nur motiviert, als private Menschen ihre Überzeugung von der Gleichberechtigung aller sexuellen Orientierungen auszudrücken. Sie bringen diese Begeisterung im Sinne des Unternehmens ein und demonstrieren ein „Wir“ aus Unternehmen, Mitarbeitenden und gesellschaftlicher Mission. Das ist eine beeindruckende Motivationsleistung.

Gemeinsam für die gute Sache

Später auf dem Heimweg nahm ich wider meine Reiselektüre „Die Humanisierung der Organisation“ zur Hand. Ich reflektiere meine Eindrücke des Nachmittags und frage mich, ob das nicht eine ungeheuerliche Übergriffigkeit des Unternehmens darstellt. Wird hier nicht eine Einheit suggeriert, wo Arbeit, Firma, Menschen, gesellschaftliche Überzeugung und Begeisterung ineinander übergehen? Wie mögen sich Mitarbeitende verhalten, die sich persönlich eher einer anderen Überzeugung von Sexualität, Familie und Gesellschaft zugehörig fühlen? Ich vermute, dass die Teilnahme an der Veranstaltung rein freiwilliger Natur war – aber das Unternehmen erzeugt damit auch einen gewissen sozialen Druck.

Und dann frage ich mich, ob die Begeisterung nicht auch missbraucht werden kann. Ob nicht irgendwann andere gesellschaftliche Strömungen Einfluss gewinnen und die Öffentlichkeit in ihren Bann ziehen. Dann aber mit Zielen, die ich gar nicht teilen will? Bin ich dann in gleicher Weise berührt von den Eindrücken?

Das „ganze Selbst“ einbringen

In ihrem Buch „Die Humanisierung der Organisation“ berichten die Autoren von Unternehmen, wo die Angestellten motiviert werden sollen, ihr „ganzes Selbst“ für die Begeisterung der Kunden einzubringen. Und sie zeigen auf, dass dieser Anspruch sowohl die Organisation als auch die Menschen hoffnungslos überfordert. Wenn Mitarbeitende ihr „ganzes Selbst“ mit in die Firma bringen, dann leben sie dort gesellschaftliche, politische oder religiöse Überzeugungen aus, werden dafür werben und vielleicht andere Personen bedrängen. Sie bringen Bedürfnisse mit ins Büro, die dort nicht zu befriedigen sind und die sich der Steuerung durch das Unternehmen entziehen. Kurzum: In Wirklichkeit sind die Verantwortlichen im Unternehmen ganz froh darüber, dass niemand die Sache mit dem „ganzen Selbst“ wirklich ernst nimmt.

Wenn Unternehmen einen Anspruch auf persönliche Einstellungen und Dispositionen ihrer Mitarbeiter erheben, dann verletzt das deren Persönlichkeitssphäre und führt zu unnötigen Reibungen im funktionalen Ablauf der Organisation. Das Buch zeigt zahlreiche Formen dieser Übergriffigkeit und schildert lebendige Beispiele dazu.

Arbeiten am „Mindset“

Eine Form dieser Zumutung ist die Erwartung an das „Mindset“ der Führungskräfte und Mitarbeitenden. Niemand kann sagen, was ein Mindset wirklich ist, woran man es beobachten kann und wie man ein „richtiges Mindset“ herbeiführen kann. Aber Unternehmen investieren eine Menge Geld in Coachingprogramme, wo Mitarbeiter ein Mindset lernen sollen.

Dabei greifen Coaches gerne zu Interventionsformen, bei der die Teilnehmenden in Szenarien künstlich erzeugter Gruppendynamik animiert werden, ihre Verhaltensformen professioneller Distanz zu Kolleg*innen abzulegen, „sich zu öffnen“ und Teile ihrer seelischen Befindlichkeit zu teilen. Solche Formate sind ineffektiv und übergriffig. Ineffektiv deshalb, weil die Personen schnell lernen, ein erwünschtes Verhalten der Involviertheit zu simulieren und entsprechende Selbstoffenbarungen zu teilen – und dabei ihre tatsächliche Befindlichkeit sehr wohl abschirmen. Sie sind übergriffig, weil die persönlichen seelischen Konflikte den Arbeitgeber und die anderen Mitarbeitenden nichts angehen.

Organisationsberatung und Coaching

Als Organisationsberater achte ich darauf, dass ich mit meinen Klienten an ihren Organisations- und Führungsstrukturen arbeite. Diese können sie als Organisation beeinflussen. Manchmal können wir über die Veränderung von Kommunikationsformaten auch eine Entwicklung in der Kultur der Zusammenarbeit anstoßen. Ich maße mir aber nicht an, mit meiner Beratung das Mindset der Klienten oder ihrer Mitarbeiter zu beeinflussen. Wenn ich mit Führungspersonen arbeite, dann geht es darum, die Dynamik des Teams zu verstehen und die Instrumente innerhalb ihrer Führungsrolle bewusst einzusetzen.

Ich nenne meine Arbeit darum lieber Organisationsberatung als Coaching. Denn beim Coaching steht die Reflektion eigener Verhaltensmuster, Einstellungen und Glaubenssätze im Mittelpunkt. Diese Arbeit zielt auf die Weiterentwicklung der Person, Organisationsberatung hingegen richtet sich immer auf die Weiterentwicklung von Führung in der Organisation.

Aus dieser Praxiserfahrung kann ich die Mission des Buches voll unterstützen: Die Zusammenarbeit in Organisationen wird humaner, wenn Organisationen gut trennen zwischen der Rolle in der Organisation und den verschiedenen Personenrollen mit ihren Bedürfnissen und Konflikten.

Lesen Sie auch meine anderen Buchbesprechungen, zum Beispiel: Torsten Groth (und andere): New Organizing, Stefan Kühl: Brauchbare Illegalität, Klaus Leopold: Agilität neu denken

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